Sieben Millionen mehr Wähler als 2013 haben diesmal mitentschieden

Bei der Wahl zum nächsten Deutschen Bundestag haben rund 7,4 Millionen Wähler MEHR gültige Zweitstimmen abgegeben, als noch vor vier Jahren. Das ist ein außerordentliches – und außerordentlich positives Ergebnis. Von Politik und Medien allerdings kaum zur Kenntnis genommen. Es wäre Zeit, sich mal zu fragen, warum Millionen von Menschen mehr als Wähler aktiv geworden sind – und was diese Wähler EIGENTLICH WOLLEN.

Zahl der Nichtwähler und der ungültigen Stimmen gesunken, rund 7,4 Millionen mehr Stimmen zählen für die Sitzverteilung im neuen Bundestag

Die Wähler haben ihr Wahlgewicht bei der diesjährigen Bundestagswahl wesentlich effektiver in die Waagschale geworfen, als noch vor vier Jahren. Bei rund 61,7 Millionen Wahlberechtigten trugen 2017 fast 7,4 Millionen Wählerstimmen MEHR zur Sitzverteilung des neuen Bundestages bei als 2013 [1]. Und zwar aus diesen Gründen:

  1. Die Zahl der Nichtwähler hat um mehr als 2,9 Millionen abgenommen. Der Prozentsatz der Nichtwähler (an allen Wahlberechtigten) ist von 28,5 auf 23,8 % gefallen. Nur noch weniger als ein Viertel aller Wahlberechtigten verzichtete also ganz auf das Wählen. Das ist, trotz der erheblichen Verbesserung gegenüber 2013, ein Warnsignal. Viele dieser Wahlberechtigten glauben nämlich nicht mehr, dass ihre Stimme noch einen „Wert“ hat und geschätzt wird für die politische Richtungsgebung.
  2. Die Zahl der abgegebenen, jedoch ungültigen Stimmen spielt keine große Rolle: Sie fiel von 0,9% auf 0,8% bzw. rund 467.000.
  3. Nahezu gedrittelt hat sich die Zahl der Stimmen für Parteien, die die 5-Prozent-Hürde nicht überwunden haben. 2013 lag der Anteil bei 11,2%, woran das damals knappe Scheitern der FDP einen erheblichen Anteil hatte (sie kam 2013 auf 4,8% der gültigen Zweitstimmen). Die Wähler 2017 haben daraus taktisch gelernt: Aus rund 6,9 Millionen an Kleinstparteien „verlorenen“ Zweitstimmen wurden 2017 nur noch 2,3 Millionen.
  4. In Summe haben also 71,6 Prozent aller Wahlberechtigten eine Stimme abgegeben haben, die Gewicht hat bei der Verteilung der Sitze im 19. Deutschen Bundestag. Das ist ein erheblicher Zuwachs verglichen mit den 59,4 Prozent der „zählenden“ Stimmen bei der Wahl 2013.
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Vergleich der Zahl der Nichtwähler, der ungültigen Stimmen und der gültigen Stimmen für Parteien unterhalb der 5-Prozent-Hürde bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag 2013 und 2017

Hebeleffekt durch „verlorene“ Stimmen wesentlich geringer als 2013

Von sämtlichen gültigen Zweitstimmen [a], zählen zur tatsächlichen Sitzverteilung im nächsten Bundestag nur diejenigen, die auf Parteien entfallen, die die 5-Prozent-Hürde überwinden konnten. Das bedeutet: Alle gültigen Stimmen für Parteien, die unter der 5-Prozent-Hürde bleiben, gehen für die Sitzverteilung verloren.

Das wirkte sich bei der Bundestagswahl 2013 noch ganz dramatisch aus: Denn von den gültigen Zweitstimmen, waren

  • 4,8 % an die FDP gegangen, die es dann doch nicht in den Bundestag geschafft hatte
  • und weitere rund 11 % an andere Parteien unterhalb der 5%-Hürde

Bei der aktuellen Bundestagswahl haben das viel mehr Wähler verstanden und berücksichtigt, als noch vor vier Jahren: Entfielen 2013 noch 6,9 Millionen Zweitstimmen auf Parteien unter der 5-Prozent-Hürde, waren es 2017 nur noch 2.3 Millionen.

(C) CIVES Redaktionsbüro GmbH
Hebeleffekt: Wie aus % der ZWEITSTIMMEN (in blau) % der SITZE (in rot) im Deutschen Bundestag werden

Nachdem bei der Bundestagswahl 2017 wesentlich weniger Stimmen als 2013 „verloren“ gingen für Parteien unter der 5-Prozent-Hürde, ist auch der Hebeleffekt für die gewählten Parteien längst nicht so groß.

Siehe dazu auch unseren Artikel ‚Verlorene Zweitstimmen – Hebeleffekt für die großen Parteien‘ [A].

In 231 von 299 Wahlkreisen wurden Vertreter von CDU bzw. CSU direkt gewählt!

Es gilt im deutschen Wahlrecht die Regel, dass der Gewinner der Erststimmen [b] in jedem Wahlkreis das „Direktmandat“ bzw. „den Wahlkreis“ errungen hat und damit in den Bundestag einziehen kann; und zwar völlig unabhängig von den Zweitstimmen, die die Partei erringt, der dieser Kandidat angehört. CDU/CSU haben offensichtlich erkannt, wie wirksam für das gesamte Wahlergebnis dieser Aspekt ist. Und haben es geschafft, dass ihre Kandidaten in 185/46, zusammen als 231 Wahlkreisen das Direktmandat gewonnen haben. Beachten Sie dazu auch unseren Artikel ‚Fünf von sechs Direktmandaten für die CDU, 19.09.2017.

Die Übermacht der CDU/CSU bei den Erststimmen bläht den neuen Bundestag um 111 Sitze auf

Die 231 gewonnenen Direktmandate/Wahlkreise für CDU und CSU entsprächen bei der vorgesehenen ‚Normgröße‘ des Bundestages [c] 41,1 Prozent aller Sitze. CDU und CSU haben zusammen jedoch nur 32,9 Prozent aller Zweitstimmen gewonnen. Um dieses Missverhältnis zwischen gewonnenen Direktmandaten/Wahlkreisen und dem Anteil der Sitze auszugleichen, der der Partei aufgrund ihres Zweitstimmenergebnisses zusteht, sind im derzeit geltenden Wahlgesetz ‚Ausgleichsmandate‚ vorgesehen. Dabei handelt es sich um zusätzliche, über die Normgröße von 598 hinausgehende Sitze im Bundestag, deren Zahl so lange erhöht wird, bis die Anzahl der Sitze für Direktmandate/Wahlkreise (bei CDU/CSU) PLUS eventuelle Listenplätzen für die Parteien aufgrund der Zweitstimmen wieder dem Zweitstimmenergebnis der Parteien entspricht.

Unter Berücksichtigung der ‚Normgröße‘ des Bundestages von 598 Sitzen ergäbe sich also bei einem Prozentsatz von 34,7 Prozent aller zu wertenden Stimmen für die CDU/CSU (von 598 Sitzen insgesamt) ein Anrecht auf 207,5 Sitze. Die CDU/CSU hat jedoch 231 Sitze direkt gewonnen, somit also 23,5 Überhangmandate, also mehr Direktmandate gewonnen, als den beiden Parteien in Summe zustehen. In einem komplizierten Verfahren, das sicher weder Sie noch mich über Gebühr interessiert, wird dann laut aktuellem Wahlgesetz die Zahl der Sitze im Bundestag so lange erhöht, bis der Prozentanteil der Parteien an der so erhöhten Sitzanzahl wieder dem Zweitstimmenergebnis für die jeweilige Partei entspricht.

Vom Ausgleich der Überhangmandate profitieren alle gewählten Parteien

Und das kommt allen gewählten Parteien zugute, weil sie alle mehr Sitze erhalten: Aufgrund der starken Direktmandatsergebnisse der CDU-/CSU-Kandidaten in den Wahlkreisen

  • erhalten bei der SPD 22 weitere Genossen einen Platz im Bundestag,
  • stärken weitere 11 Parteigänger die Fraktion der AfD und
  • vermehren 15 weitere Abgeordnete die Fraktion der FDP und
  • polstern jeweils 10 weitere Mandatsträger die Fraktionsstärken von Linken und Bündnis90/Die Grünen auf.

Nach aktuellen Berichten der Tagesschau [2] kostet diese Aufblähung des Bundestags nach dem Mechanismus des aktuellen Wahlrechts rund 300 Millionen Euro mehr.

Kein Interesse an einer Reform des Wahlrechts in der letzten Wahlperiode

Bundestagspräsident Lammert hatte bereits in der ersten Sitzung des Bundestages der letzten Wahlperiode und dann erneut im im April 2016 einen Vorschlag zur Reform des Wahlrechts gemacht [3]. Dieser wäre noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2017 umsetzbar gewesen. Er sah vor, dass der Ausgleich durch zusätzliche Mandate abgebrochen wird, sobald eine Gesamtzahl von 630 Sitzen erreicht ist. Darüber hinausgehende Direktmandate blieben der entsprechenden Partei erhalten, würden aber nicht ausgeglichen. Lammert hatte außerdem die Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre vorgeschlagen.

Doch die so bequeme Versorgung mit zusätzlichen Abgeordnetensitzen dank der Direktmandate der Union überwogen die guten Argumente des Bundestagspräsidenten: SPD, Linke und Bündnis90/Die Grünen konnten sich nicht für eine Zustimmung zu seinen Vorschlägen erwärmen. Und so kam es nun zu der von Lammert und anderen Experten bereits vor Jahren vorausgesagten Größe des Bundestages von mehr als 700 Abgeordneten.

Größeres Wählerengagement – kaum Wirkung bei Politik und Medien

Gerade wir Wähler haben Grund genug, stolz und selbstbewusst zu sein: Die Sitzverteilung im (aufgeblähten) Bundestag der 19. Wahlperiode wurde von 7,4 Millionen MEHR gültigen Wahlstimmen bestimmt, als noch die im letzten Bundestag.

Der Grund für dieses wiedererwachte Engagement der Wähler findet allerdings keine Resonanz bei Politik und Medien. Die Politiker von Union und SPD sind mit Wundenlecken beschäftigt. Die Frage WARUM und AN WEN sie Millionen von Stimmen verloren haben, scheint sie nicht zu bewegen. FDP und Grüne sind fokussiert auf ihre mögliche Regierungsbeteiligung. Die AfD weiß nicht, ob sie sich mehr mit Freudentaumel oder doch mit der beginnenden Selbstzerlegung beschäftigen soll. Und hat noch nicht reflektiert, dass bei dieser Wahl nur 24% der Wähler, die schon 2013 AfD gewählt hatten, auch dieses Mal wieder die angebliche Alternative gewählt haben.

Der Psychologe und Meinungsforscher Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut gilt als führender Experte für die AfD und ihre Wählerschaft. Er wies am 26.9. in einem Interview mit der Radiowelt im Bayerischen Rundfunk darauf hin, dass von den 12,6% Zweitstimmen die die AfD geholt hat, nur maximal die Hälfte dem rechten bzw. rechtsextremen Kern dieser Partei zuzurechnen ist. Die größere Hälfte entschied sich nicht FÜR die AfD sondern wählte aus Protest gegen die Politik einer oder mehrerer anderer Parteien. Wir sind gespannt, wann Politik – und Medien – sich auf die Frage besinnen, was die Wähler eigentlich erreichen wollten mit ihrem Abstimmungsverhalten.

Fußnoten

[a]   Mit der Zweitstimme wird bei der Bundestagswahl eine bestimmte Partei gewählt.

[b]   Mit der Erststimme wird bei der Bundestagswahl ein Kandidat als gewünschter Vertreter des Wahlkreises gewählt, in dem der Wähler seinen Wohnsitz hat.

[c]   ’Normgröße‘ des Bundestages ergibt sich aus 299 Sitzen für Gewinner der Erststimmen in den 299 Wahlkreisen und aus 299 Abgeordneten der Landeslisten der Parteien, deren Anteile sich nach Bundesland und Zweitstimmenanteil der Partei bestimmen.

Quellen

[1]   Bundestagswahl 2017: Vorläufiges Ergebnis, 25.09.2017, Der Bundeswahlleiter
https://bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/32_17_vorlaeufiges_ergebnis.html

[2]   Der teure „XXL-Bundestag“, 26.09.2017, Stand: 15.00 Uhr, Tagesschau Online
http://www.tagesschau.de/inland/bundestag-kosten-103.html

[3]   Wahlrechtsreform, 13.04.2016, Der Präsident des Deutschen Bundestages
https://www.bundestag.de/blob/418390/32adcebc780611d4aaa61e39f5a92059/kw15_wahlrechtsreform_vorschlag-data.pdf

Thematisch verwandte Artikel

[A]   Verlorene Zweitstimmen – Hebeleffekt für die großen Parteien, 22.05.2017, CIVES
https://cives.de/verlorene-zweitstimmen-hebeleffekt-fuer-die-grossen-parteien-5190

[B]   Nichtwählen oder Ungültig sind keine Alternative, 16.09.2017, CIVES
https://cives.de/nichtwaehlen-oder-ungueltig-sind-keine-alternative-6280

[C]   Fünf von sechs Direktmandaten für die CDU, 19.09.2017, CIVES
https://cives.de/fuenf-von-sechs-direktmandaten-fuer-die-cdu-6297

[D]   Risiko Regierungsbeteiligung für FDP und Grüne, 11.08.2017, CIVES
https://cives.de/risiko-regierungsbeteiligung-fuer-fdp-und-gruene-5918

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