Verlorene Zweitstimmen – Hebeleffekt für die großen Parteien

Vier von zehn möglichen Zweitstimmen der Wahlberechtigten haben keinen Einfluss auf das Wahlergebnis. Das liegt an rund einem Drittel Nichtwähler. Und an einem Verfahren für die Sitzverteilung, das den gewählten Parteien anteilig die Zweitstimmen der Parteien zuschlägt, die es nicht über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft haben. Das nützt am meisten den großen Parteien. Was Abhilfe schafft?! Eine von der Handvoll Parteien zu wählen, die eine echte Chance dazu haben, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen!

Nicht-Wähler

Viele Wahlberechtigte sind mit den Angeboten der etablierten politischen Parteien in diesem Lande unzufrieden. Und entschließen sich daher, den angebotenen Handel gar nicht mehr anzunehmen, d. h. sie gehen nicht wählen. Das ist ihr gutes Recht, hat aber zur Folge, dass Millionen mögliche Stimmen bei der Sitzverteilung in den Parlamenten schlicht keine Rolle spielen [a]. Zwischen 28,5 und 35,8% aller Wahlberechtigten gingen bei der Bundestagswahl und den drei Landtagswahlen in diesem Jahr gar nicht mehr zu Wahl. Bei der Bundestagswahl 2013 entsprach die Zahl der Nichtwähler der Bevölkerungszahl von Nordrhein-Westfalen. Bei der Landtagswahl in diesem Bundesland in der vergangenen Woche gingen 4,85 der über 13 Millionen Wahlberechtigten nicht zur Wahl. Das ist mehr als das Vierfache der gesamten Bevölkerung Kölns.

Ungültig

„Meinen Protest werde ich deutlich zum Ausdruck bringen und ‚ungültig‘ quer über den Stimmzettel schreiben“ oder „den Stimmzettel durchstreichen“ oder „meine Haltung mit einem ausführlichen Statement“ begründen. Solche „Wahlempfehlungen“ poppen immer wieder mal hoch. Die beabsichtigte Wirkung verpufft allerdings: Denn die Meinungsäußerung nimmt allenfalls ein Mitglied des Wahlhelfer-Teams zur Kenntnis, das zu diesem Zeitpunkt am Wahlabend vor allem eines will: Nach Hause. Auf das Wahlergebnis nehmen ungültige Stimmen jedoch keinen Einfluss. Sie werden nämlich von den abgegebenen Stimmen abgezogen. Nur das, was übrig bleibt, also die Zahl der gültigen Stimmen, bildet die Bezugsbasis („die 100%“) für die Sitzverteilung.

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Abb. 1: Durch Nichtwähler und ungültige Stimmen bleibt rund ein Drittel der möglichen Zweitstimen ungenutzt

Zahl der Sitze in den Parlamenten

Bei den Bundestags- und Landtagswahlen hat jeder Wähler zwei Stimmen: Mit der Erststimme wird eine Person gewählt, die den Wahlkreis im Parlament direkt vertreten soll. Wer die meisten Erststimmen in einem Wahlkreis erzielt, hat das Direktmandat gewonnen. Mit der Zweitstimme wird eine der Parteien gewählt, die im jeweiligen Bundesland eine Wahlliste aufgestellt hat. Das Wahlergebnis der Zweitstimmen legt fest, wie viele Abgeordnete eine Partei „über die Liste“ ins Parlament bringt. Die Rangfolge auf der Wahlliste und das Wahlergebnis bestimmen die Erfolgsaussichten des einzelnen Abgeordnetenaspiranten auf der Liste.

Pro Wahlkreis werden also zwei Sitze vergeben; daraus folgt, dass die Gesamtzahl der Sitze im jeweiligen Parlament mindestens zweimal so groß ist wie die Zahl der Wahlkreise. Auf Bundesebene gibt es 299 Wahlkreise, folglich daher mindestens 598 Abgeordnete im Deutschen Bundestag.

Überhang- und Ausgleichsmandate

Die Sache wäre sehr einfach, gäbe es nicht die sogenannten Überhangmandate[b]. Sie kommen zustande, wenn die Abgeordneten einer Partei aufgrund ihrer Erststimmen-Ergebnisse mehr Wahlkreise gewonnen haben, als der Partei den Zweitstimmen nach zusteht. In diesem Fall werden nach einem komplizierten Verfahren [c] so lange die Sitze im Parlament erhöht, bis die dadurch zustande kommende Sitzverteilung wieder dem Zweitstimmenergebnis entspricht. Die so hinzugekommenen Mandate heißen ‚Ausgleichsmandate‚ [d]. Auf diese Weise wurden aus den nominell 598 Abgeordneten im Deutschen Bundestag nach der Wahl im Jahr 2013 631 Sitze; aktuell sind es noch 630.

Verlorene Zweitstimmen

Für die rechnerische Verteilung der Sitze werden nur die Stimmen berücksichtigt werden, die auf die Parteien entfallen, die die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen haben. Es bleiben also alle gültigen Zweitstimmen ohne Berücksichtigung, die auf Parteien entfielen, die die Fünf-Prozent-Hürde nicht übersprungen haben.

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Abb. 2: Zwischen 15,8 und 8,5 der Zweitstimmen entfallen auf Parteien, die die Fünf-Prozent-Hürde nicht überspringen

Verlorene Zweitstimmen machen die gewählten Parteien noch stärker

Diese Zweitstimmen gehen den Parteien verloren, für die der Wähler sie eigentlich gedacht hatte. Sie machen jedoch die gewählten Parteien noch stärker. Denn je mehr Stimmanteile eine der gewählten Parteien errungen hat, desto größer wird der Anteil der Zweitstimmen aus dem Pool der „verlorenen Stimmen“, der dieser Partei zugeschlagen wird.

Die Berechnung funktioniert so: Die Summe der auf die gewählten Parteien (über der Fünf-Prozent-Hürde) entfallenden Anteile bildet die neue 100%-Bezugsgröße für die Verteilung der Sitze. Der Anteil der einzelnen Partei wird dann nach dem „Dreisatz“ aus ihrem ursprünglichen Wahlergebnis berechnet. Am Beispiel der Bundestagswahl 2013 ist gut zu erkennen, dass sich daraus für die großen, gewählten Parteien ein Vorteil von mehreren Millionen Stimmen ergibt. Stimmen von Wählern, die diese Parteien gerade NICHT gewählt haben.

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Abb. 3a: Hebeleffekt: „Verlorene Zweitstimmen“ an Parteien unter der Fünf-Prozent-Hürde verschaffen den gewählten Parteien umso mehr Stimmen, je größer deren Wahlergebnis ist

Der Bundestag ist dabei kein Sonderfall. Ganz ähnlich sieht es in den Landtagen aus, wie die Wahlergebnisse dieses Jahres zeigen:

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Abb. 3b: Hebeleffekt auch in den Landtagen: „Verlorene Zweitstimmen“ an Parteien unter der Fünf-Prozent-Hürde verschaffen den gewählten Parteien umso mehr Stimmen, je größer deren Wahlergebnis ist

Auswirkung der Fünf-Prozent-Hürde: Die großen Parteien erhielten bei der Bundestagswahl Millionen Stimmen von Wählern anderer Parteien

Wie sehr die gewählten Parteien von dieser Sitzverteilungsmethode profitieren, zeigt diese Auswertung der Bundestagswahl 2013: Rund 2,1 Millionen Stimmen für die FDP haben knapp nicht gereicht, um über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. Diese Zweitstimmen waren verloren. Insgesamt 15,8% der Zweitstimmen, in absoluten Zahlen rund 6,1 Millionen Stimmen wurde nicht so verwendet, wie die Wähler dies eigentlich intendiert hatten; sondern wurden den gewählten Parteien zugeschlagen und bildeten einen Hebeleffekt für die Berechnung der Sitze dieser Parteien.

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Abb. 4: Bei der Bundestagswahl 2013 kamen Millionen Wählerstimmen für Parteien unter der Fünf-Prozent-Grenze den gewählten Parteien zugute

Und dieses Phänomen ist kein Einzelfall: Die gleiche Auswertung zeigt für die drei Landtagswahlen des Jahres 2017 das gleiche Bild:

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Abb. 5: Das gleiche Bild bei den Landtagswahlen 2017

Fazit: Vier von zehn möglichen Stimmen bleiben ohne Einfluss auf das Wahlergebnis

Fasst man die (möglichen) Stimmen von Nichtwählern, sowie die ungültigen Stimmen und die Zweitstimmen an Parteien zusammen, die unter der Fünf-Prozent-Hürde bleiben, so bleiben vier von zehn möglichen Stimmen ohne Einfluss auf das Wahlergebnis. Anders ausgedrückt: Nur rund 60% des Einflusspotenzials der Wähler hat tatsächlich Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Parlamente.

Was können Sie tun?!

1. Gehen Sie wählen!
Bei der Bundestagswahl 2013 blieben so viele Wähler zu Hause, wie Nordrhein-Westfalen Einwohner hat. Bei der Wahl in NRW Mitte Mai 2017 war die Zahl der Nichtwähler mehr als viermal so groß, wie Köln Einwohner hat. Damit entscheiden weniger Wähler über die Sitzverteilung in den Parlamenten. Die Parteien brauchen weniger Stimmen.

2. Helfen Sie Parteien, die die Chance dazu haben, über die Fünf-Prozent-Hürde!
Viele Umfragen zeigen, dass die Wähler in Deutschland die Große Koalition als lähmend empfinden. Es fehlt an guten Ideen, an Innovation, Tatkraft, und weitgehend auch an fähigem Personal. Und daran wird sich auch nichts ändern, solange Union und SPD sich darauf verlassen können, dass ihr gewichteten Stimmen zusammen immer wieder locker ausreichen, um auch in der nächsten Wahlperiode zu sicheren Mehrheiten zu kommen. Allein bei der letzten Bundestagswahl haben die beiden großen Fraktionen rechnerisch 5,5 Millionen Stimmen mehr zugeschlagen bekommen, als sie tatsächlich Wähler hatten.
Um diesen unverdienten Vorteil bei der nächsten Wahl zu minimieren, dürfen nicht so viele Stimmen „verloren gehen“, wie bei den letzten Wahlen. Dies kann vermieden werden durch viele Zweitstimmen für die Handvoll Parteien, die die echte Chance haben, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. Sie – persönlich – sind aber gegen die FDP, AfD, Linke oder Grüne?! Spielt das wirklich die große Rolle im Vergleich damit, dass ihre Zweitstimme nicht nur verloren gehen kann, sondern auch noch den erheblichen Hebeleffekt hat, dass die großen Parteien damit noch größer gemacht werden?!

Fußnoten

[a]   Für die anteilige Verteilung der Sitze in den Parlamenten sind die Zweitstimmen relevant. Daher ist hier nur von Zweitstimmen die Rede.

[b]   Überhangmandate sind auf dieser Seite gut erklärt

[c]   Erläuterung des neuen Verfahrens der Umrechnung von Wählerstimmen in Bundestagssitze, Aktuelle Mitteilung des Bundeswahlleiters vom 09.10.2013
https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/d9a0da9b-f5d1-4043-8452-bf72ed9e86b2/20131009_erl_sitzzuteilung.pdf

[d]   Ausgleichsmandate sind auf dieser Seite gut erklärt.

Quellen und Zahlenmaterial

[1]   Sitzverteilung im 18. Deutschen Bundestag

[2]   Ergebnisse der Landtagswahl 2017 im Saarland
http://www.statistikextern.saarland.de/wahl/internet_saar/LT_SL/landesergebnisse/

[3]   Ergebnisse der Landtagswahl 2017 in Schleswig-Holstein
https://www.landtagswahl-sh.de/startsite/LTW2017_2_1.pdf

[4]   Vorläufige Ergebnisse zur Landtagswahl 2017 in Nordrhein-Westfalen
https://www.wahlergebnisse.nrw.de/landtagswahlen/2017/aktuell/a000lw1700.shtml

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1 Gedanke zu „Verlorene Zweitstimmen – Hebeleffekt für die großen Parteien“

  1. Ich betrachte das jetzt mal als Sarkasmus.
    Man soll die „Verbrecher“ wählen, die sich ihren Regierungsauftrag von Lobbyisten diktieren lassen, einen bis auf die Knochen ausziehen wollen und zusätzlich noch dazu beitragen, dass unsere Lebensgrundlagen zerstört werden.

    Herzlichen Dank. Das Kalb soll seinen Schlachter wählen.

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