Das persönlich wichtigste, politische Ziel der Menschen in Ost- und Westdeutschland ist seit Jahren MEHR DIREKTE POLITISCHE MITBESTIMMUNG. Die Linksfraktion hat auch im neuen Bundestag wieder einen Gesetzentwurf eingebracht, um direkte Demokratie im Grundgesetz zu verankern. Man darf gespannt sein, ob auch dieser – inzwischen 13. Anlauf im Bundestag – wie alle seine Vorgänger die notwendige Zweitdrittelmehrheit um Längen verfehlt. Taugt „den Wählerwillen ernst nehmen“ also tatsächlich nur für Talkshows und Wahlnachbesprechungen?!
Mehr Volksbeteiligung bei Regierungsentscheidungen ist das wichtigste Ziel der Wahlberechtigten in Ost und West
„Welches Ziel erscheint Ihnen persönlich am wichtigsten?“ Antworten auf diese Frage erhebt die so genannte ALLBUS-Studie bereits seit 1980, seit 1991 im zweijährigen Abstand getrennt im Osten und Westen Deutschlands. Die Ergebnisse wurden zuletzt im Datenreport 2016 veröffentlicht, das ist ein umfangreicher Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, den das Statistische Bundesamt zuletzt für 2016 herausgegeben hat [1].
Als Antwort auf die Frage werden vier Alternativen angeboten, unterteilt in jeweils zwei „materialistische Ziele“, nämlich
- Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, sowie
- Kampf gegen die steigenden Preise
und zwei „post“-materialistische Ziele, nämlich
- mehr Einfluss der Bürger auf Entscheidungen der Regierung, sowie
- Schutz des Rechtes auf freie Meinungsäußerung
Klarer Spitzenreiter im Westen und Osten ist seit Jahren „Mehr Einfluss der Bürger auf die Entscheidungen der Regierung“: Bereits seit 2004 (!) führt dieses Ziel bei den Menschen im Osten mit großem Abstand: 2014 lag der Zustimmungswert bei 45%.
Ähnlich sehen das die Befragten im Westen. Hier lag der letzte Wert bei immerhin 36%.
Mehr Volksbeteiligung wird ignoriert, mehr Innere Sicherheit dagegen hochgejazzt: Warum?!
Das ist im Osten und Westen gleichbleibend wesentlich mehr Zustimmung als das, was Bundesinnenminister und Union als politisches Ziel Nr. 1 ausgeben, nämlich die „Aufrechterhaltung von Ruhe (?!) und Ordnung. Die schafft es, mit erheblichem Abstand mit Werten von um die 30% nur auf Platz 2.
Gerade die Union hat ja mit langem Anlauf zum Bundestagswahl das Thema Innere Sicherheit in den Mittelpunkt ihrer Aktionismen gestellt [A]. Ihr Noch-Koalitionspartner SPD hat sich dem – spät noch, aber immerhin – angeschlossen. Beide großen Parteien haben vollkommen ignoriert, was dem Wähler tatsächlich am wichtigsten ist, nämlich mehr politische Mitbestimmung. Das Argument, sie hätten es nicht gewusst, kann nicht zutreffen. Denn beim ‚Datenreport‘ des Bundesamtes handelt es sich um DEN umfassendsten Sozialreport über die Bundesrepublik Deutschland vom Statistischen Bundesamt, also aus staatlicher Hand.
Es drängt sich vielmehr der Gedanke auf, dass die Union und in ihrem Geleitzug die SPD das Thema Innere Sicherheit deswegen so hochgejazzt haben, weil die dabei umgesetzten Gesetzesvorhaben ihren politischen Intentionen nützen. Und nicht etwa, weil die in Angriff genommenen Maßnahmen zur angeblichen Verbesserung der Inneren Sicherheit am tatsächlichen Sicherheitsgefühl der Menschen in diesem Land auch nur einen Deut ändern [B].
Es drängt sich im Umkehrschluss der Gedanke auf, dass der dringendste politische Wunsch der Befragten in Ost und West, also mehr politische Mitbestimmung, von den beiden großen Parteien deshalb so geflissentlich ignoriert wird, weil mehr Mitsprache durch Wahlberechtigte gerade nicht in deren Sinne ist.
Gesetzentwurf der Linksfraktion zur „Stärkung der direkten Demokratie im Grundgesetz“
Ob diese These richtig ist wird sich demnächst zeigen: Es hat nämlich die Linksfraktion im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf eingebracht [2], zur „Stärkung der direkten Demokratie im Grundgesetz“. Damit wird ein dreistufiges Verfahren vorgesehen, mit dem
- in Stufe 1 – der Volksinitiative – „Gesetzesvorlagen und andere bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung“ in den Bundestag eingebracht werden können, wenn die mindestens 100.000 Wahlberechtigte zustimmen [a].
- Wenn die Volksinitiative mit der Mehrheit des Bundestages abgelehnt wird, kann ein Volksbegehren eingeleitet werden. Dieses ist zustande gekommen, wenn innerhalb von 9 Monaten mindestens 1 Million Wahlberechtigte dem Vorhaben zustimmen. Sollte die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages der Auffassung sein, dass das so zustande gekommene Volksbegehren mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, so ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Dieses muss innerhalb von sechs Monaten über den Antrag entscheiden.
- Wenn der Bundestag nicht innerhalb von drei Monaten dem Volksbegehren entspricht, findet frühestens 4 und spätestens 12 Monate nach dessen Abschluss ein Volksentscheid statt. Die gleichen Fristen gelten, wenn ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig war und dieses die Vereinbarkeit des Volksbegehrens mit dem Grundgesetz festgestellt hat. Der Volksentscheid gilt als angenommen, wenn sich 15% der Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt haben UND wenn die Mehrheit der Abstimmenden dem Vorhaben zugestimmt hat. Dabei zählen nur die Jahre bzw. Nein-Stimmen. Bei Gesetzen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, ist im Bundesrat für dieses Land so abzustimmen, wie es dem Abstimmungsergebnis zum Volksbegehren im jeweiligen Bundesland entspricht.
An einem Volksentscheid über ein Gesetzesvorhaben, mit dem das Grundgesetz geändert wird, müssen sich mindestens ein Viertel aller Wahlberechtigten beteiligt haben und mindestens zwei Drittel aller gültig abgegebenen Stimmen müssen dem Vorhaben zustimmen.
Volksabstimmung bei Neufassungen bzw. Änderungen von EU-Grundlagenverträgen
Eine Volksabstimmung wäre nach dem Gesetzentwurf notwendig, bevor die Bundesrepublik Deutschland einer Neufassung oder Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union oder vergleichbaren Regelungen zustimmen kann. Die Mindestwahlbeteiligung dafür liegt bei einem Viertel der Wahlberechtigten. Für die Zustimmung wäre die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen notwendig.
Erweiterter Kreis der Wahlberechtigten
Der Gesetzentwurf der Linksfraktion sieht ferner zwei Erweiterungen beim Kreis der Wahlberechtigten vor, nämlich
- auf alle deutschen Staatsbürger ab dem Alter von 16 Jahren
- auf alle nicht-deutsche Staatsbürger ab dem Alter von 16 Jahren, sofern sie seit mindestens fünf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten.
Der 13. Vorstoß im Bundestag
Bei diesem jüngsten Vorstoß der Linken in Sachen mehr direkter Mitwirkung der Wahlberechtigten handelt es sich insgesamt um den 13. Anlauf [3]. Mindestens einmal seit der deutschen Einheit gab es in jeder Legislaturperiode des Bundestages eine entsprechende Initiative. Auch die zwölfte stammte von der Linksfraktion, die früh zu Beginn der letzten Wahlperiode im März 2014 einen in wesentlichen Teilen gleichen Gesetzentwurf eingebracht hatte. Der blieb erst einmal zwei Jahre liegen und wurde dann im Frühsommer 2016 beraten – und abgelehnt. Die für eine Grundgesetzänderung notwendige Zweitdrittelmehrheit kam nicht einmal annähernd zustande.
Tim Ostermann, ein Vertreter der Union, sah keine Veranlassung, sich inhaltlich mit der Angelegenheit auseinanderzusetzen, sondern erging sich in der Prognose: „Wir beraten heute über ihren Gesetzentwurf – zumindest für diese Wahlperiode. Ich bin mir sicher, dass wir spätestens zu Beginn der neuen Legislaturperiode mit der erneuten, dann dreizehnten Einbringung rechnen dürfen und dass es auch dann keine Mehrheit für ihren Antrag und ihren Gesetzentwurf geben wird.“
Das Abstimmungsverhalten der Union in dieser 19 Wahlperiode dürfte damit vorhersehbar sein.
Für die SPD-Fraktion verschanzte sich der Abgeordnete Lars Castelucci hinter dem Koalitionsvertrag: „Wir halten sie [= Antrag und Gesetzentwurf der Linksfraktion] über weite Strecken für sehr sinnvoll, und wir werden ihnen nicht zustimmen.“ Grund für diese paradoxe Haltung sei die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU, in dem sich die Koalitionäre gegenseitig verpflichtet hätten, im Bundestag nicht unterschiedlich abzustimmen. Sollte die SPD bei ihrer Entscheidung für die Opposition bleiben und somit vom Koalitionszwang befreit sein, hat sie also jetzt Gelegenheit, dem Gesetzentwurf ihre Zustimmung zu geben.
Auch die Grünen waren in der letzten Wahlperiode nicht allzu weit weg vom Vorschlag der Linksfraktion. Deren Abgeordneter Özcan Mutlu verlangte jedoch deutlich höhere Hürden: 400.000 statt 100.000 Unterstützer für den Einstieg mit der Volksinitiative und 5% der Wahlberechtigten für das Volksbegehren: Das entsprach damals schon rund 3,2 Millionen Wahlberechtigten, während der aktuelle Vorschlag der Linksfraktion 1 Million Unterstützer vorsieht. Bei der dritten Stufe, dem Volksentscheid, stimmen die Grünen aus der letzten Wahlperiode und der aktuelle Vorschlag der Linksfraktion dann überein: Beide verlangen dafür eine Beteiligung von 15% der Wahlberechtigten.
Aufgrund dieser eher quantitativen Divergenzen hatten sich die Grünen in der letzten Wahlperiode bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf enthalten. Sollten sie Mitglied einer „Jamaika-„Koalition werden, dürften die gleichen Handfesseln zu erwarten sein, wie zuletzt für die SPD, d.h. die Union wird ihre Koalitionspartner mit dem Koalitionsvertrag auf ihre Linie zwingen, sodass die erforderlich Zweidrittelmehrheit auch für diesen Antrag nicht zustande kommen wird.
„Den Wählerwillen ernst nehmen“ – hier wäre eine Gelegenheit zur praktischen Umsetzung!
Es soll ja, vor der Unterzeichnung eines Koalitionsvertrages, in den entsprechenden Parteien noch die Zustimmung der jeweiligen Parteibasis eingeholt werden. Vielleicht gelingt es ja auf dieser Ebene noch, mehr Bewusstsein für den Sachverhalt zu wecken, dass weit mehr als ein Drittel (im Westen) und fast die Hälfte aller Wahlberechtigten (im Osten) seit Jahren mehr direkte Beteiligung als dringendsten politischen Wunsch artikulieren. Ein Eingehen darauf, durch Aufnahme von Volksabstimmungen im Grundgesetz und ein Zustandebringen der dafür notwendigen Zweitdrittelmehrheit im Bundestag, wäre ein Zeichen dafür, dass „den Wählerwillen ernst nehmen“ bei den gewählten Volksvertretern mehr ist als nur ein billiges Lippenbekenntnis in Talkshows und auf Wahlnachbesprechungen.
Fußnoten
[a] Änderungen des Grundgesetzes, die ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt antasten würden, sind dadurch nicht möglich.
Quellen
[1] Datenreport 2016, Kapitel 14, dort Seite 4, Statistisches Bundesamt
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Datenreport/Downloads/Datenreport2016Kap14.pdf?__blob=publicationFile
[2] Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der direkten Demokratie im Grundgesetz, 24.10.2017, DBT-Drs.: 19/16, Deutscher Bundestag
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/000/1900016.pdf
[3] Auch weiterhin kein Volksbegehren auf Bundesebene, 11.06.2016, CIVES
https://cives.de/auch-weiterhin-kein-volksbegehren-auf-bundesebene-3110
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[A] Zur Politik der Inneren Sicherheit von CDU/CSU und SPDHaben Milliarden für Innere Sicherheit das Land irgendwie sicherer gemacht?!, 21.08.2016, CIVES
https://cives.de/haben-milliarden-fuer-innere-sicherheit-das-land-irgendwie-sicherer-gemacht-3602
Faktencheck zum SPD-Wahlprogramm zur Inneren Sicherheit, 17.05.2017, CIVES
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Politik der Inneren Sicherheit 2007 – 2017 – eine Bestandsaufnahme, 27.06.2017, CIVES
https://cives.de/politik-der-inneren-sicherheit-2007-2017-bestandsaufnahme-5508
https://cives.de/wie-die-grosse-koalition-ihre-gesetze-durchsetzt-5478
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