Hintergründe und Konsequenzen der so genannten ‚Netzpolitik‘-Affäre

Der Blog Netzpolitik provoziert seit geraumer Zeit, so wird es jedenfalls beim Kanzleramt, im Innenministerium und den nachgeordneten Sicherheitsbehörden wahrgenommen. Da gab es einen monatelangen Streit mit der Bundestagsverwaltung darüber, ob Blogger ausreichend ernstzunehmende Journalisten sind, die auch Anspruch auf eine Akkreditierung für den Bundestag haben. Letztendlich hat Netzpolitik die Akkreditierung erhalten [1]. Damit ausgestattet erwarb sich André Meister, einer der beiden Blogger, gegen die das aktuelle Ermittlungsverfahren anhängig ist, Verdienste durch außergewöhnliches Durchhaltevermögen: Er war der immer-präsente Anwesende in den öffentlichen Sitzungen des NSA-Untersuchungsausschuss und verfertigte und veröffentlichte dann auf dem Blog Netzpolitik.org zeitnah seine Mitschriften von diesen öffentlichen (!) Teilen der Sitzungen des Ausschusses. Er machte damit zumindest teilweise wett, was der Bundestag an Transparenz vermissen lässt. Nämlich zeitnah Information zu liefern, was eigentlich in den öffentlichen (!) Sitzungen des NSA-Untersuchungsausschusses geschieht.

Die Bundesregierung, das Kanzleramt insbesondere, zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass selbst die Unterlagen, auf die der NSA-Untersuchungsausschuss einen gesetzlichen Anspruch auf Einsicht hat, dem Ausschuss ganz vorenthalten werden oder in einem Maße geschwärzt werden, den selbst langjährige Abgeordnete, wie das Urgestein der Grünen, Hans-Christian Ströbele, noch nie erlebt haben [2]. Das erklärte Ziel der Regierung besteht darin, möglichst alles geheim zu halten, was Innere Sicherheit im Allgemeinen und die Zusammenarbeit zwischen Bundesbehörden und amerikanischen Diensten im Besonderen angeht. Insofern wird jede Organisation und jede Person, die diese Absicht unterläuft, als rotes Tuch angesehen, so eben auch Netzpolitik.org.

Zuspitzung im letzten halben Jahr

Der Druck aus den NSA-Enthüllungen auf die Bundesregierung wuchs: Nicht nur war Merkels Handy abgehört worden, sondern auch – über lange Zeit hinweg – viele Mitglieder der Bundesregierung. Selbst Weißwurst-Frühstück und der Ausflug der Kanzlerin mit Obama in ein Dorf, das Kulisse für wunderschöne Bilder abgab, schufen nicht die Gesprächsatmosphäre, dass die deutsche Bundeskanzlerin mit dem amerikanischen Präsidenten mal „Tacheles“ geredet hätte über Überwachung der deutschen Regierung und der deutschen Bevölkerung. Was allem Anschein nach nicht an den Szenenbildern lag, sondern an Merkel’s Unwillig- und Unfähigkeit, gegenüber Amerika mal Selbstbewusstsein und Entschlossenheit aufzubieten.

Über die deutschen Nachrichtendienste – Bundesnachrichtendienst (BND) und Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), sowie das von den meisten gar nicht wahrgenommene Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) – hatte sich der Eindruck in der öffentlichen Meinung verfestigt, dass diese willfährige Handlanger der amerikanischen Dienste sind und ansonsten – mit eigenen personellen und technischen Mitteln wenig „drauf haben“.

Dann veröffentlichte Wikileaks (sic!) [3] die offiziellen (also aus dem Bundestag stammenden und autorisierten) Protokolle der öffentlichen Sitzungen des NSA-Untersuchungsausschusses seit Einsetzung bis zum Frühjahr 2015 und sorgt bis heute dafür, dass diese öffentlich zugänglich sind. Interessanter Weise interessiert sich jedoch niemand, auch nicht die Bundestagsverwaltung oder der Generalbundesanwalt dafür, wer eigentlich diese Menge an Bundestagsdokumenten an Wikileaks weitergegeben hat. Es handelt sich dabei um Material von einer Fülle und Qualität, gegen die die beiden von Netzpolitik teilweise abgeschriebenen und in eigenen Artikeln verarbeiteten [4a, 4b] Textpassagen aus Dokumenten des Bundesamts für Verfassungsschutz geradezu „peanuts“ sind.

André Meister, der Mister durable der deutschen Blogszene, saß in dieser Zeit weiterhin auf den Zuschauerrängen bei den Sitzungen des NSA-Untersuchungsausschuss und bloggte – meist noch aus der Sitzung heraus, das was er mitgeschrieben hatten. Das verschaffte dem Blog Netzpolitik.org Anerkennung und Aufmerksamkeit, vor allem in den sozialen Medien im Internet.

NSA – Rückenwind für Netzpolitik.org

Dieser Zuspruch mag beigetragen haben zur Entscheidung bei Netzpolitik, mit weiteren ‚Enthüllungen‘ nachzulegen: Jedenfalls veröffentlichte der Blog am 25.02. [4a] und am 15.04. [4b] diesen Jahres zwei längliche Artikel, mit denen – wenn man’s genau betrachtet – nur die Meinung dieser Autorengemeinschaft untermauert wird: Dass nämlich die Sicherheitsbehörden in diesem Lande – und hier konkret das Bundesamt für Verfassungsschutz – angeblich über eine ganz enorm leistungsfähige Informationstechnik und IT-kompetentes Personal verfügen. Womit unterstellt wird, dass die flächendeckende Überwachung der Bevölkerung in diesem Lande Faktum und ständige Praxis ist. Letzteres mag zutreffen. Die Annahmen über die angeblich so hohe technische Leistungsfähigkeit hingegen, sind von Netzpolitik nicht bewiesen und schlichtweg falsch …

Worum es in den beiden Dokumenten tatsächlich geht …

Kernstück der beiden Artikel aus dem Frühjahr 2015 waren längliche Textpassagen aus zwei Dokumenten älteren Datums, nämlich aus 2013f [4a, 4b] aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Darin geht es um Planungen des BfV für den Aufbau einer Einheit zur technischen Analyse im Internet.

Die beiden Dokumente, aus denen weite Passagen abgeschrieben wurden (Netzpolitik hat keine Faksimile / also Abbilder dieser Dokumente abgebildet, sondern Teile der Texte in den Artikel übernommen …), stehen in engem inhaltlichem Zusammenhang. Und sie sind nicht sonderlich überraschend: Man kann aus dem ersten [in 4a] entnehmen, dass das BfV Personal aufbauen will für technische Analysen im Internet: Ein Sachverhalt, der nicht neu und schon gar nicht geheim ist: Denn die „Verbesserung der technischen Analysefähigkeiten des Bundesamts für Verfassungsschutz“ steht wörtlich so auch schon im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD aus dem Spätherbst 2013. Dieses Vorhaben wird also im Rahmen der Haushaltsplanung für das Jahr 2014 – übrigens in einem relativ bescheidenen finanziellen Umfang von 2,75 Millionen Euro – zur Umsetzung beantragt.

In der zweiten Veröffentlichung [in 4b], die – laut Netzpolitik – aus einem VS-NfD eingestuften Original hervorgeht, wird dann die neue Organisationsgruppe im BfV beschrieben, die zur ‚Erweiterten Fachunterstützung Internet‘ im BfV nach Freigabe der beantragten Mittel aufgebaut werden soll. Der zitierte Text beschreibt ein Planvorhaben, nämlich die geplante Einrichtung einer Referatsgruppe 3C = ‚Erweiterte Fachunterstützung Internet‘ im BfV.

Das Dokument wurde geschrieben, um Haushaltsmittel zu beantragen und deren Notwendigkeit zu begründen. Es wird da in dürrem Beamtendeutsch dargestellt, welche sechs Referate unter dieser Referatsgruppe 3C eingerichtet werden sollen und welche spezifischen Ziele und Aufgaben diese Referate – laut Planung – haben sollen. Wohlgemerkt: Wir sprechen noch immer von Planungsdaten, also Absichtserklärungen einer Behörde, die sich um Haushaltsmittel für das nächste Jahr bemüht. Und dann wird im zweiten Text [in 4b] auch noch für jedes der sechs Einzelreferate angegeben, mit welcher Personalkapazität die geplanten Aufgaben erfüllt werden sollen: Ganz praktisch also, wie viele Manntage des

  • mittleren,
  • gehobenen
  • und höheren Dienstes

eingeplant würden – für den Fall, dass die Behörde die beantragten Haushaltsmittel für dieses Vorhaben erhält.

Diese Angaben sind haushalterisch wichtig: Denn aus der Anzahl von Manntagen kann jeder ‚Haushalter‘ durch einfache Multiplikation mit den (in Behörden bekannten und auch veröffentlichten) Manntagessätzen für Beamte des mittleren, gehobenen und höheren Dienstes, nachrechnen, wie die summarisch beantragten Mittel auch planerisch plausibel unterlegt sind.
Später übrigens, wenn dann die beantragten Haushaltsmittel bewilligt sind, kräht erfahrungsgemäß kein Hahn mehr danach, ob und in welchem Umfang diese zur Beantragung der Mittel vorgelegte Planung tatsächlich eingehalten wurde …

Ist der Vorwurf von „Staatsgeheimnis“ bzw. „Landesverrat“ haltbar?!

Das ist also der Inhalt der beiden Texte, die Netzpolitik in seine Meinungsartikel eingebaut hat, und bei denen es sich nach Behauptung des BfV-Präsidenten um „Staatsgeheimnisse“ handeln soll. Eine weitere Beschäftigung mit diesem Vorhalt erübrigt sich – für mich – weil ich gemeinsam mit vielen anderen Beobachtern und Kommentatoren davon ausgehen, dass sich dieser Vorwurf juristisch in Luft auslösen wird. Nicht zuletzt deshalb, weil in §93 des Strafgesetzbuches definiert ist und im Tröndle/Fischer-Standardkommentar zum Strafgesetzbuch [5] erläutert wird,
dass Staatsgeheimnisse „nur einem begrenzten Personenkreis zugängliche und im Interesse der äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse sind.“

Das mit dem begrenzten Personenkreis stimmt sicher: Solche Planungsunterlagen des BfV werden den Abgeordneten des Bundestages zur Verfügung gestellt, die Mitglied im Haushaltsausschuss sind oder einer Untergliederung dieses Ausschusses. Somit konnten die mit der Erstellung befassten Mitarbeiter des BfV, Kenntnis haben von diesen Dokumenten, sowie der Kreis der Abgeordneten, die Mitglied im entsprechenden Ausschuss sind (ich las heute davon, dass es 38 Kopien dieser Dokumente gab). Die Ermittlungen gegen „unbekannt“ richten sich also vor allem gegen diesen Empfängerkreis.

Das mit dem Interesse der äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland könnte ein Schuss sein, der für die Anzeigenerstatter nach hinten losgeht. Denn für ausländische Dienste, allen voran die Dienste der USA, ist es doch alles andere als ein Geheimnis, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz technisch aufrüsten muss. Nicht zuletzt gibt es – dank Snowden – bekannt gewordene Dokumente, die belegen, wie man sich den Auf- und Ausbau der Zusammenarbeit auf technischem Gebiet zwischen Amerikanern und Deutschen vorstellt (Wir hatten darüber früher schon berichtet: ‚NSA über die Zusammenarbeit mit BND, BSI und BfV‚, 12. 07.2014, Cives).

Und dann wäre da noch, dass es sich bei Staatsgeheimnissen um „Tatsachen …“ handeln muss. Planungen sind aber keine Tatsachen, sondern allenfalls Wunschvorstellungen, die in der Zukunft realisiert werden sollen.

Auch ohne Jurist zu sein, gehe ich also davon aus, dass es schwierig werden wird für die Strafverfolger, den Vorwurf des „Staatsgeheimnisses“ aufrecht zu erhalten.
Wo jedoch kein Staatsgeheimnis vorliegt, kann es auch keinen „Landesverrat“ geben: Denn der einschlägige Paragraph 94 des Strafgesetzbuches, der den Landesverrat unter Strafe stellt, beginnt mit den Worten: „Wer ein Staatsgeheimnis … „

Also kann man Netzpolitik eigentlich gar nichts vorwerfen?!

Netzpolitik hat – zweimal – und mit viel Triumph im Begleittext – seitenlang aus Behördendokumenten abgeschrieben, die als VS-NfD eingestuft waren. Diese Abkürzung steht für die geringste von mehreren möglichen Geheimhaltungsstufen und bedeutet in Langform „Verschluss-Sache – Nur für den Dienstgebrauch“. Wer diese Dokumente auf welchen Kanälen beschafft und Netzpolitik zur Verfügung gestellt hat, wüssten die Strafverfolger auch gerne. Auch gegen den / diejenigen Informanten richtet sich daher auch die Anzeige des BfV-Präsidenten Maaßen – und dies ist – nach meiner Einschätzung – auch die Hauptangriffsrichtung dieser Anzeige, wie unten noch ausgeführt wird.

Netzpolitik wusste jedoch genau, dass die entsprechenden Texte als geheimzuhalten eingestuft waren und hat bei der Veröffentlichung insofern vorsätzlich gehandelt. Zum Ton und Duktus im Artikel („Wir enthüllen die neue Verfassungsschutz-Einheit zum Ausbau der Internet-Überwachung“ [4b]), in den diese Textabschriften eingebettet waren, sagt Stefan Aust, ehemaliger Chefredakteur des Spiegel und heute Herausgeber der Welt [6]:

„Nicht mehr die journalistische oder politische, die aufklärerische Notwendigkeit steht da gelegentlich im Vordergrund, sondern der Triumph angesichts der zugespielten … Datenbestände, ganz egal, woher sie stammen und ganz egal, zu welchem Zweck sie einem zugespielt werden.“

Nun ist allerdings die Veröffentlichung solcher „Dienstgeheimnisse“ durch Journalisten nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2007 für diese nicht mehr strafbar. Insofern, darauf dürften die Netzpolitik-Aktivisten spekuliert haben und so wird es wohl auch ausgehen, dass die ganze Angelegenheit für die beiden Netzpolitik-Leute keine strafrechtlichen Konsequenzen haben und ihnen auf der Habenseite eine Menge medialer Aufmerksamkeit und einen reichen Spendensegen bescheren wird. Allein bis zum 05.08, abends sollen 130.000 Euro an Spenden aufgelaufen sein [7]- ein Betrag, der aktuell so manche Initiative zur humanitären Hilfe für Griechenland vor Neid erblassen lassen dürfte!

Ist hier wirklich die Pressefreiheit in Gefahr?

Das Schwert des „Landesverrats“ veranlasst zunächst zum Kopfschütteln: Hier wurde mit Kanonen auf Spatzen geschossen! Das mag man vordergründig als Anzeichen für die aktuelle Dünnhäutigkeit des BfV-Präsidenten Maaßen und seiner aufsichtsführenden Behörde, also des Bundesinnenministeriums (BMI), werten. Persönlich glaube ich nicht an diese Interpretation: Sondern vielmehr daran, dass Maaßen in enger Abstimmung mit dem BMI (aus diesem Stall stammt der Mann schließlich!) ganz bewusst die so große Kanone „Landesverrat“ gewählt hat. Und zwar nicht, um ein paar junge Blogger aufzuwerten, die daraus eine Sonderkonjunktur an Aufmerksamkeit ableiten. Sondern um Geheimnisträger abzuschrecken und zu „ermahnen“, in Zukunft doch wieder ganz besonders sorgfältig mit Dienstgeheimnissen umzugehen. Der Vorwurf des Landesverrats eignet sich deshalb so besonders gut zur Abschreckung und Einschüchterung, gerade für Geheimnisträger, die nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen oder auf der Klaviatur der sozialen Netzwerke spielen können, wie diese beiden Blogger, weil das Strafgesetz für den Fall einer Verurteilung wegen Landesverrats eine Mindeststrafe von einem Jahr Haft vorsieht.

Der Schaden der Netzpolitik-Affäre

Ich denke, dass diese, für den kurzfristigen Triumph in zwei inhaltlich leichten Artikeln provozierte Affäre dem Bemühen um Transparenz in Demokratie und Parlamentarismus einen gravierenden Schaden zugefügt hat bzw. zufügen wird:

Die langjährige Taktik der Regierung Schäuble/Merkel, gestellte Fragen nicht zu beantworten und Transparenz zu vermeiden

Bundesregierung, Bundesministerien und Bundesbehörden verfolgen seit Jahren sehr konsequent eine Taktik der Abschottung und Geheimhaltung. Als geheim klassifiziert wird so gut wie jedes Dokument, selbst wenn es sich um die Bestellung von Toilettenpapier handelt. Denn selbst daraus könnten ja Rückschlüsse gezogen werden, z.B. auf die Personalstärke, Verfasstheit oder Einsatzbereitschaft der Behörde, für die das Klopapier gedacht ist …

Anfragen von Pressevertretern (angeblich die „vierte Gewalt“) bei Ministerien und Bundesbehörden, werden in aller Regel ausweichend beantwortet, ganz abgeblockt oder ausgesessen.

Die nächste Eskalationsstufe – Anfragen nach dem jeweils geltenden Informationsfreiheits- bzw. Akteneinsichtsgesetz werden ganz besonders intensiv ausgesessen. Wer damit durchdringen will, muss in finanzielle Vorleistung gehen, und – bei wirklich brisanten Themen – den Klageweg beschreiten. Der erfolgreich sein kann, aber nicht muss, jedoch auf jeden Fall Jahre dauert, bis ein Ergebnis vorliegt.

Und dann wären da noch die Auskunftsrechte der Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Sie können Anfragen einreichen, auf die Regierung antworten muss. Die Oppositionsparteien machen davon regen Gebrauch. Ebenso rege ist die Bundesregierung in ihrer Abschottung. Was sie nicht beantworten will – und das ist eine ganze Menge – betrifft entweder das „Staatswohl„. Dieses Staatswohl ist sozusagen die kleine Schwester des Staatsgeheimnisses. Es macht möglich, nach Ansicht der Bundesregierung, dass eine ihr unliebsame Frage nicht beantwortet wird. Der Einfachheit halber definierte die Bundesregierung gleich selbst, wann das Staatswohl (angeblich) betroffen ist und beantwortet Fragen in diesem Fall nicht.

Wo das Staatswohl nicht passt, kommt der „Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung“ zum Zuge. Er besagt auf Deutsch: Es geht keinen ‚was an, was die Regierung tut oder lässt.

In beiden Fällen ist es die Bundesregierung, die entscheidet, ob sie Anfragen, die ihr eigenes Tun oder Lassen betreffen, beantwortet oder nicht.

Der Schaden, den die Veröffentlichung von Netzpolitik angerichtet hat …

In diese Atmosphäre der seit Jahren gepflegten und ausgebauten Abschottung der Regierung Schäuble/Merkel gegenüber Bürgern, Presse und Parlamentariern platzt nun Netzpolitik mit seinen beiden Artikeln und seitenlangem Abschreiben von VS-NfD-klassifiziertem Material. Für jeden, der den Berlin-Betrieb kennt, ist es naheliegend, dass die beiden Dokumente, aus denen Netzpolitik da abgeschrieben hat, durchgestochen wurden von einem der Abgeordneten im Haushaltsausschuss oder einem Fraktionsmitarbeiter, der an solche Dokumente herankommt.

Ein solches Vorgehen ist allerdings nichts Neues und funktioniert seit Jahrzehnten bestens: Und zwar deswegen, weil zwischen dem Informanten mit den Dokumenten und seinem Ansprechpartner, dem professionellen Journalisten, eine eiserne Regel besteht und bisher auch beachtet wurde: Der Informant wird durch den Journalisten geschützt, so gut es geht.

Stefan Aust, der oben schon zitierte Herausgeber der Welt, sagt dazu [6]:

„Aber vielleicht sind die traditionellen Papiertiger [gemeint sind die Journalisten der klassischen Medien / d. Verf.] auch ein wenig sorgsamer als die Newcomer im Neuland des Internets. Der erfahrene Journalist versucht, seine Quellen möglichst zu schützen. Er nimmt Materialien, wägt sie ab, überprüft sie und verarbeitet die Informationen in einem Artikel. Und dabei versucht er, die Herkunft der Informationen nicht gerade auf dem Präsentierteller zu servieren. Das Internet lädt dazu ein, Informationen, Dateien, Akten einfach online zu stellen. Jeder sein eigener Snowden, sein eigenes kleines Wikileaks.“

Diese eherne Regel der Kooperation zwischen Informanten und Journalisten im Politikbetrieb hat Netzpolitik verletzt. Um gerade mal zwei Artikel aufzuhübschen mit seitenlangen Zitaten. Die Zitate haben nicht viel Neues gebracht. In den Artikeln wurde die – nicht neue – ablehnende Haltung von Netzpolitik gegenüber dem Bundesamt für Verfassungsschutz wiederholt.
Für diesen – relativ kleinen Preis – wurde ein Kooperationskonzept massiv beschädigt, nämlich das zwischen Informanten im Regierungsbetrieb und Journalisten, das seit Jahrzehnten gut und zum Wohle aller – gerade auch zum Wohle der Transparenz des Regierungshandelns in diesem Lande – funktioniert hat.
Genau dies anzugreifen war die Absicht, die der BfV-Präsident Maaßen mit seiner Strafanzeige verfolgt hat.

Der Erfolg in der Gegenwart und Zukunft, dass nämlich Informanten sehr viel „vorsichtiger“ sein werden mit der Weitergebe entsprechender Dokumente, ist der eigentliche Schaden, den die beiden Blogger von Netzpolitik hier ohne Not und aus relativ billigen, individuellen Motiven angerichtet haben.

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Quellen zu diesem Artikel

[1]     Bundestag akzeptiert Blogger als Reporter, 14.03.2014, Zeit
http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-03/blogger-bundestag-beckedahl-jung

[2]     Ströbele kritisiert: Geheimdienstakten über NSA bis zur Wertlosigkeit geschwärzt, 11.11.2014, Ströbele Online
http://www.stroebele-online.de/themen/untersuchungsausschuss/8080022.html

[3]     NSA Untersuchungsausschuss, 12.05.2015, Wikileaks
https://wikileaks.org/bnd-nsa/press/index.de.html

[4a]     Geheimer Geldregen: Verfassungsschutz arbeitet an „Massendatenauswertung von Internetinhalten“ (Updates), 25.02.2015, Netzpolitik.org
[4b]     Geheime Referatsgruppe: Wir enthüllen die neue Verfassungsschutz-Einheit zum Ausbau der Internet-Überwachung (Updates), 15.04.2015, Netzpolitik.org

[5]     Tröndle/Fischer: Kommentar zum Strafgesetzbuch und Nebengesetzen in der Reihe Beck’scher Kurz-Kommentare, Verlag CH. Beck, München

[6]     Sie schießen auf Publizisten und meinen die Informanten, 02.08.2015, Welt
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article144715490/Sie-schiessen-auf-Publizisten-und-meinen-die-Informanten.html

[7]     130 000 Euro Spenden für „Netzpolitik.org“, 05.08.2015, Stuttgarter Zeitung
http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.ermittlungen-wegen-landesverrat-130-000-euro-spenden-fuer-netzpolitikorg.ba91dcd3-cc94-4c9d-804d-52eacadfd105.html