Was ist mit den 500.000 Syrern aus dem Merkel-Plan?

Es könnte sein, dass aktuell nur die halbe Wahrheit auf dem Tisch liegt. Die Rede ist vom „Durchbruch“ bei den Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei, die heute morgen die Schlagzeilen beherrscht.
Wer in Flüchtlingen vor allem eine Bedrohung für das deutsche Staatswesen sieht, wird das Abkommen gutheißen. Denn jeder Einwanderer weniger ist aus der Sicht solcher Zeitgenossen ein guter. Und die Parteigänger von Merkel, wie die Welt, jubeln: „Die Flüchtlingskanzlerin hat sich durchgesetzt.“ [1] Wer ein wenig genauer hinsieht – und das tun heute morgen viele Kommentatoren – fragt nach den tatsächlichen Ergebnissen bzw. Verbesserungen. Den „Gipfel der Heuchelei“ macht ein überraschend offener Kommentar auf Tagesschau.de aus [2]. Die TAZ stellt in den Mittelpunkt, dass die EU 72.000 Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen will [3]. Das sei zynisch: Denn allein in Berlin kamen im letzten Jahr schon mehr Menschen an. Wobei, wie die TAZ auch noch anmerkt, diese 72.000 anzurechnen sind auf Kontingente, die schon in der Vergangenheit unter den EU-Staaten beschlossen wurden (da waren es mal 160.000). Von denen sind bisher weniger als 1.000 Plätze tatsächlich genutzt. Faktisch heißt das: Beim EU-Gipfel ist für keinen Menschen mehr ein Platz in der EU herausgesprungen. Könnte man denken.

Der ‚Merkel-Plan‘

Doch geisterte in den vergangenen Tagen immer wieder das Wort vom ‚Merkel-Plan‘ durch die Medien: Den soll die Kanzlerin in der Tasche gehabt und klammheimlich mit Davotuglo, dem türkischen Ministerpräsidenten, schon beim Gipfel vor zehn Tagen besprochen haben. Es ging da um den Kuhhandel aus der Rücknahme von Flüchtlingen, die (in der Zukunft!) auf griechischen Inseln ankommen, wobei für jeden zurückgenommenen Syrer ein anderer Syrer, der ohnehin schon in der Türkei festsitzt, an die EU abgegeben werden kann. Bis zur Obergrenze von 72.000 wohlgemerkt, wie jetzt beschlossen wurde. Das ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein und ignoriert völlig die Menschen, die jetzt schon in Griechenland festsitzen und die hunderttausende, die nicht zweifelsfrei eine syrische Staatsbürgerschaft haben. Im Gegenzug sollten (und wurden jetzt wohl) der Türkei Visaerleichterungen versprochen werden, mehrere Milliarden Euro, sowie die Beschleunigung von Beitrittsverhandlungen zur EU. Das sind die Eckpunkte, die heute publiziert wurden.

Über den Merkel-Plan, so war zu lesen, gab es beim Gipfel vor zwei Tagen erheblichen Ärger. Denn – völlig zu Recht – fühlten sich die Franzosen und viele andere EU-Regierungschefs düpiert vom – wieder einmal – undiplomatischen und unabgesprochenen Alleingang der Frau aus der Uckermark.

Doch es könnte sein, dass damit noch nicht alle Details der Absprache auf dem Tisch der Öffentlichkeit liegen. Telepolis machte vor zwei Tagen darauf aufmerksam [4], dass der so genannte Merkel-Plan ein Konzept ist, das der Think Tank ‚European Stability Initiative‘ (ESI) im Auftrag der Bundesregierung erarbeitet hat und der schon seit Oktober letzten Jahres öffentlich [5] ist.
Bisher hat Frau Merkel diesen – schmeichlerisch schon von den Autoren nach ihr benannten Plan – geradezu buchstabengetreu umsetzt.

Auch Teil des Merkel-Planes: Eine halbe Million syrische Asylantragsteller für Deutschland in den nächsten zwölf Monaten

Es steht allerdings noch mehr in diesem Papier, als aktuell öffentlich gewordener Bestandteil der Vereinbarungen mit der Türkei ist: Deutschland soll nämlich einer halben Million Syrer, die in der Türkei bereits registriert sind, in den nächsten zwölf Monaten Asyl gewähren. Syrische Flüchtlinge, und zwar nur solche, die heute bereits in der Türkei registriert sind, sollen ihren Asylantrag an Deutschland bereits in der Türkei stellen können. Eine Einzelfallprüfung kann entfallen, da ohnehin 95% aller syrischen Flüchtlinge in Deutschland anerkannt werden. Syrische Asylantragsteller in Deutschland werden registriert (wenn auch mitunter erst nach Monaten), es werden Fotos und Fingerabdrücken genommen und sie müssen einen ausführlichen Fragebogen ausfüllen. Dieses Verfahren kann auch schon in der Türkei durchgeführt werden. Die Tatsache, dass syrische Flüchtlinge dort bereits registriert sind, macht die Angelegenheit sogar noch einfacher – sagt das Konzeptpapier. Und fährt fort:

„Dass die große Mehrheit der syrischen Flüchtlinge sind, macht das Verfahren noch einfacher: Denn nach einer Erhebung aus dem Jahr 2013 sind 17% der syrischen Flüchtlinge in der Türkei Familienoberhäupter, 15% deren Ehefrauen, 55% Kinder, 3,3% Enkel und nur 9% sind einzelne Erwachsene oder andere Verwandte. Somit müssen nur für 26%, nämlich für die Familienoberhäupter und allein Reisenden tatsächlich Asylanträge bearbeitet werden.
Weiterer positiver Nebeneffekt: Das ohnehin nach wie vor überlastete Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – BAMF – würde auf diese Weise entlastet und müsste nicht so viele Fachleute mit entsprechenden Sprachkenntnissen vorhalten.

Warten wir also ab, wann Frau Merkel der verdutzten Öffentlichkeit erklären wird, dass 500.000 Syrer für Deutschland auch noch Teil des Kuhhandels sind. Und das als Erfolg verkaufen wird: Man weiß, wen man da ins Land holt, Syrer, sagen andere Erhebungen sind gut ausgebildete Leute, vorwiegend aus dem dortigen Mittelstand. Deutschland pickt sich hier sozusagen die Rosinen aus dem Pool der Flüchtlinge. Und nicht zuletzt ist die Zahl insgesamt begrenzt: Denn 500.000 vorselektierte Syrer sind nach diesem Kalkül ja allemal besser als 600.000 Asylantragsteller aus aller Herren Länder, wie im vergangenen Jahr.

Die Konsequenzen des Merkel-Plans

Was der Merkel-Plan offensichtlich übersieht, ist die erwartbare Reaktion der anderen EU-Länder, die sich ein weiteres Mal von Merkel hinters Licht geführt fühlen werden. Ferner die Tatsache, dass ein solcher Kuhhandel das Asylrecht mit Füßen tritt. Aber das ist es wahrscheinlich, was in diesen Tagen mit „notwendiger Realpolitik“ bezeichnet wird.
Was allerdings auch in diesem Konzept nicht auf dem Radar erscheint: Flüchtlinge – aus vielen Ländern – gibt es dennoch. „Migration ist Fakt“ schreibt dazu Simon Jenkins im Guardian [6] „doch unserer verblendeten Führer tun so, als könnten sie die Flut einfach abschalten“. Was passiert also in wenigen Monaten, wenn die Fluchtrouten über das zentrale Mittelmeer wieder von Flüchtlingsbooten wimmeln? Frau Merkel wird dann in ihrer gewohnten Art erklären, dass Deutschland ja wieder einmal die größte Last von allen getragen hat. Und für weitere Flüchtlinge gilt: Mit uns die Sintflut …

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Quellen

[1]   Die Flüchtlingskanzlerin hat sich durchgesetzt, 19.03.2016, Welt-Online
http://www.welt.de/politik/ausland/article153465932/Die-Fluechtlingskanzlerin-hat-sich-durchgesetzt.html

[2]   Flüchtlingsdeal mit der Türkei – Der Gipfel der Heuchelei; 19.03.2016, Tagesschau
http://www.tagesschau.de/kommentar/eu-gipfel-239.html

[3]   EU-FLüchtlignsabkommen: 72.000? Hallo?, 19.03.2016, TAZ
http://taz.de/Kommentar-EU-Fluechtlingsabkommen/!5287848/

[4]   Merkels Pka, Samsoms Plan, türkische Pläne oder alles ESI? 17.03.2016, Telepolis
http://www.heise.de/tp/artikel/47/47711/1.html

[5]   The Merkel Plan – Restoring control; retaining compassion: A proposal für den Syrian refugee Crisis; 04.10.2015, European Stability Initiative
http://www.esiweb.org/pdf/ESI%20-%20The%20Merkel%20Plan%20-%20Compassion%20and%20Control%20-%204%20October%202015.pdf

[6]   Migration is a fact of life – yet our deluded leaders try to turn back the tide; 18.03.2016, The Guardian
http://www.theguardian.com/commentisfree/2016/mar/18/migration-leaders-david-cameron-refugees-libya-movement-of-people

Siehe auch …

Das goße Geschacher: Beim Gipfel zwischen der EU und der Türkei ging es zu wie auf dem Rossmarkt, 08.03.2016, Cives-lLog

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