„Spionage“! – Ablenkungsmanöver aus dem Kanzleramt

Seit den ersten Enthüllungen durch Edward Snowden – im Sommer 2013 – haben wir eine Reihe von Artikeln zur Zusammenarbeit zwischen BND und NSA und zum Verhalten der Bundesregierung und insbesondere der Bundeskanzlerin veröffentlicht. Der folgende Artikel erschien erstmals am 10. Juli 2014 auf dem Polygon-Blog. Aus aktuellem Anlass – und weil schon wieder Vieles in Vergessenheit geraten ist, was damals öffentlich bzw. bekannt war – veröffentlichen wir diesen Artikel hier noch einmal.

Was Politiker aktuell aufführen unter der Überschrift ‚Spionageskandal‘ ist nichts anderes als ein peinliches Ablenkungsmanöver. Peinlich einerseits, weil die Verteidigungsministerin von der Leyen oder der mehrfache, langjährige Innenminister Schäuble, offensichtlich überzeugt davon sind, dass ihre, mit Schaum vor dem Mund vorgetragenen Statements beim dummen Volk verfangen. Fast noch peinlicher ist allerdings das komplette Versagen der Mainstream-Presse, die den angeblichen Spionageskandal ohne jedes Hinterfragen hochjubelt und dabei nicht merkt, dass und wie sehr sie den Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und SPD damit in die Hände spielt.

Ablenkungsmanöver

Denn die haben vor allem eines im Sinn: Abzulenken von der flächendeckenden Massenüberwachung der deutschen Bevölkerung und Wirtschaft. Abzulenken von der Tatsache, dass Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und das Bundesamt für Verfassungsschutz sich von ihrem (grund-)gesetzlichen Auftrag verabschiedet haben und willfährige Handlanger und Erfüllungsgehilfen der Dienste der Vereinigten Staaten geworden sind. Abzulenken von der Tatsache, dass es Rechtsgrundlagen gibt, wie insbesondere das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, das die deutschen Dienste „im Bündnisfall“ verpflichtet; dass es diesen Bündnisfall gibt, dafür haben die Amerikaner nach den Anschlägen vom 9. September 2001 gesorgt und er wurde seither nicht aufgehoben. Dass und wie weitreichend jedoch die Verpflichtungen sind, die deutsche Dienste in Erfüllung ihrer Bündnispflichten gegenüber dem NATO-Partner USA erbringen, darf nicht öffentlich werden, ebenso wenig wie die Tatsache, dass unter dem Banner der angeblichen ‚Abwehr terroristischer Bedrohungen‘ ohne jede Abwägung von Aufwand, Nutzen und Ergebnis die flächendeckende Überwachung der Bevölkerung ganzer Länder zur ständigen Praxis geworden ist.

Das Argument von der „Terrorabwehr“:
Mit gesundem Menschenverstand nicht mehr zu begreifen!

Ohnehin ist dieses Argument vom ‚Kampf gegen den Terror‘ mit gesundem Menschenverstand nicht mehr zu begreifen. Denn wenn es tatsächlich darum gehen sollte, Menschen zu schützen, die in Folge von ‚Terror‘ getötet oder verletzt werden könnten, so hätte es in den Jahren seit 2001 und an jedem Tag des aktuellen Jahres mehr als genug zu tun gegeben: Opfer des „Bürgerkriegs“ in Syrien, Tote in Folge von Selbstmordattentaten im Irak, oder Opfer von Gräueln im Sudan … scheinen einen Tod zweiter Klasse zu sterben, denn nichts und niemand macht(e) sich auf, mit auch nur annähernd vergleichbarem Einsatz von Politik, Manpower und Geld den hunderttausendfachen Tod dieser Menschen zu verhindern. Der Kampf gegen den Terror, der stereotyp angeführt wird als Begründung für die gigantische Aufrüstung von Werkzeugen zur Massenüberwachung in der ersten Welt, ist daher schon lange nicht mehr glaubhaft.

Intransparente Geheimdienst-Bündnisse ergänzen legitime Staaten-Bündnisse

Bündnisse zwischen Staaten und ausgehandelt zwischen Politikern als (meist) gewählten Repräsentanten dieser Staaten, wie die NATO, sind inzwischen faktisch ergänzt worden durch intransparente und unkontrollierbare Bündnisse zwischen den Geheimdiensten dieser Staaten. So verbündete Geheimdienste teilen Technik und Werkzeuge ebenso miteinander, wie Informationen bzw. Zugänge zu Kommunikations- und Informationssystemen, sofern dies strategisch sinnvoll erscheint.

Jegliche Kontrolle fehlt …

Diese autokratischen Gebilde sind jeglicher Kontrolle entzogen: Weil – einerseits – die vorhandenen gesetzlichen Regeln zur Geheimhaltung nicht nur taktische bzw. strategische Operationen schützen, sondern sich hinter diesem Vorhang auch alles sonstige verbergen läßt, was Außenstehende, insbesondere Politiker, Datenschützer oder Parlamentarier – und natürlich auch Presse und Bürger – nicht wissen sollen. Und – andererseits – Kontrolle allein auf Vertrauen gegenüber den kontrollierten Diensten basiert: Dieses Kontroll“prinzip“ beruht auf der Annahme, dass die Kontrollierten – quasi als eigenes moralisches Über-Ich – schon selbst mitteilen werden, wenn sie Verfehlungen und Verstöße bei sich selbst entdeckt haben – eine absurde Vorstellung!

Kontrolle braucht Fachleute mit Fachkompetenz und -wissen

Kein Mensch außerhalb der Dienste weiß überhaupt noch, was diese eigentlich treiben. Wie sicher diese sich fühlen, ist zu erkennen an der jüngst im Bundestag vorgebrachten Forderungen nach 300 Mio Euro zusätzlicher Mittel für den BND. Man benötige diese für die Auswertung sozialer Netzwerke und um „auf Augenhöhe“ zu sein mit den „amerikanischen Partnern“. Bundesjustizminister Maas stellte öffentlich die Frage nach der Rechtsgrundlage für eine solche Überwachung durch den BND. Dafür hatte man im Innenministerium, Kanzleramt bzw. BND anscheinend nicht rechtzeitig eine triftige Antwort bereit gelegt, sodass die Forderung im Bundestags [für’s erste / d. Verf.] abgewiesen wurde. Das Vorgehen belegt jedoch, wie sicher man sich in diesen Kreisen fühlt, selbst Forderungen in dreistelliger Millionenhöhe ohne jegliche Rechtsgrundlage, einfach mal „auf gut Glück“ stellen zu können.

Es belegt diese Episode jedoch ein grundsätzliches Problem: Von extrem wenigen Ausnahmen abgesehen, gibt es außerhalb der Dienste keine Fachleute mehr, die wissen und beurteilen können, wie die technischen Werkzeuge der Dienste eigentlich funktionieren. Auch gibt es niemanden mehr, der sagen könnte, bzw. sagen darf, wenn er’s denn weiß, auf welche Daten die Dienste eigentlich zugreifen.

Der besondere Wert von Edward Snowden

Der besondere Wert von Edward Snowden besteht darin, dass er sowohl die technische Expertise hat, als auch die Belege darüber, was amerikanische (und andere) Dienste tatsächlich tun und dass er die Bereitschaft erklärt hat, die Weltöffentlichkeit darüber aufzuklären, ohne konkret Geheimhaltungsbedürftiges offen zu legen.

Der NSA-Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag hat Snowden daher vor allen anderen als Zeugen bestimmt. Vor allem mit seiner Hilfe soll(te) der Komplex der flächendeckenden Erfassung, Speicherung und Nutzung von Telefon, Email- und Internet-Kommunikationsdaten von deutschen Bürgern aufgeklärt werden. Bisher hat die Regierungsmehrheit erfolgreich torpediert, dass Snowden vor dem Ausschuss in Deutschland aussagen kann. Eine Video-Vernehmung in Moskau lehnt dieser aus Gründen, die mit seiner persönlichen Sicherheit zu tun haben, dagegen ab.

Spionage unter „Freunden“

Dass es Spionage gibt, auch unter „befreundeten“ Nationen, ist nichts Neues. Dass Individuen, die an geheim zu haltende Informationen bzw. Dokumente herankommen, versuchen, diese zu Geld zu machen, dürfte als das zweitälteste Gewerbe überhaupt gelten. Neu ist allenfalls das mediale Geschrei, das darüber jetzt veranstaltet wird. Und leider verfehlt das Geschrei nicht seine (sicherlich beabsichtigte) Wirkung. Das abgehörte KanzlerInnen-Handy bzw. der (angebliche) Geheimnisverrat eines BND-Mitarbeiters und eines Soldaten bestimmen die Schlagzeilen, sodass kein Platz mehr bleibt für Berichterstattung aus dem NSA-Untersuchungsausschuss:

Dabei sind die jüngst von den Verfassungsschutzbehörden „aufgedeckten“ – oder sollte man besser sagen: Der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebrachten …- und vom Generalbundesanwalt auch zügig aufgegriffenen, angeblichen Spionagefälle Marginalien im Vergleich mit dem im Raum stehenden Vermutung der flächendeckenden Überwachung der Telekommunikation der deutschen Bevölkerung und Wirtschaft.

Warum Ablenkung?

Warum Politiker dennoch mit so viel Engagement und Verve das Spionagethema aufgreifen, die Überwachungsfrage jedoch schon vor fast einem Jahr für beendet erklärten, muss Gründe haben. Es muss nämlich – aus Sicht von Regierungspolitikern – sinnvoll und nützlich sein, das Überwachungsthema weiterhin zu negieren und tot zu schweigen:

Die Mistgabeln werden kommen!
Offener Brief des US-Milliardärs Nick Hanauer an seine reichen Freunde

Eine plausible Antwort auf die Frage nach dem Warum kommt von unerwarteter Seite, nämlich von Nick Hanauer, einem Amerikaner, der als früher Finanzinvestor von Amazon zum Multimilliardär geworden ist. Hanauer warnt in einem offenen Brief an seine reichen Freunde, dass die Kluft zwischen Arm und Reich (, die an sich untrennbar mit der kapitalistischen Wirtschaft verbunden ist), auf einem historischen Hoch angelangt ist und von Tag zu Tag schlimmer wird. Die Mittelschicht steht in Gefahr zu verschwinden und aus der kapitalistischen wird sich eine feudale Gesellschaftsstruktur entwickeln, die der in Frankreich ähnelt – vor der französischen Revolution, sagt Hanauer.

Wenn nicht bald etwas getan wird, um die eklatanten Ungerechtigkeiten in dieser Wirtschaft zu beheben, werden die Mistgabeln zu uns kommen. Keine Gesellschaft kann diese Art von wachsender Ungerechtigkeit auf Dauer aufrechterhalten. Und es gibt kein einziges Beispiel in der Geschichte der Menschheit, wo Reichtümer wie diese angesammelt wurden und nicht irgendwann Mistgabeln gekommen sind.
Die wirtschaftliche Entwicklung in den westlichen Gesellschaften führt also zwangsläufig zum Risiko der Mistgabeln, von Aufständen. Insofern ist es nur „vorausschauend“ für eine Politik der Inneren Sicherheit, möglichst genau Bescheid zu wissen darüber, was Gruppen bzw. der einzelne tut und denkt, kommuniziert. Oder, um es mit den Worten von Nick Hanauer zu sagen: „Am Anfang ist es ein Polizeistaat, dann kommen die Aufstände“.

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