Ist richtig oder falsch eine Frage des politischen Lagers?

Die Debatten-Kultur (?) in diesem Land nimmt zunehmend hysterische Züge an. Was richtig oder falsch ist, wird nicht mehr an gemeinsamen (?) Werten (?) gemessen, entschieden und dann verlautbart. Sondern vielmehr am Verständnis des jeweiligen politischen Lagers über dort genehme und akzeptierte Ansichten. Jene dürfen geäußert werden. Davon Abweichendes hat ungesagt zu bleiben. Nicht mehr weit ist eine solche Haltung zur Gedankenpolizei im Sinne George Orwell’s. Dort war selbst abweichendes Denken verboten.

Ein Beispiel dafür gibt dieser Tage die Linkspartei ab. Dort erregt man sich – wieder einmal – über Sarah Wagenknecht, eine der beiden Fraktionsführer im Deutschen Bundestag. Und Teile der Presse nutzen dies als ideale Gelegenheit, um gegen Wagenknecht zu indoktrinieren [a]. Dabei werden Behauptungen aufgestellt, die mit dem, was Wagenknecht tatsächlich gesagt hat, wenig zu tun haben. Doch wer liest schon das Original?!

Die Pressemitteilung von Wagenknecht vom Montag

Die hatte am Montag, nach dem Amoklauf vom Freitag in München und dem Anschlag vom Sonntag in Ansbach folgede Pressemitteilung [1] veröffentlicht:

„Menschen müssen sich wieder sicher fühlen können

Meine Gedanken und mein Mitgefühl sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Auch wenn die konkrete Aufklärung der Hintergründe des Anschlags von Ansbach noch abgewartet werden muss, kann man doch schon so viel sagen: Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass die Aufnahme und Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern mit erheblichen Problemen verbunden und schwieriger ist, als Merkels leichtfertiges ‚Wir schaffen das‘ uns im letzten Herbst einreden wollte“, erklärt Sahra Wagenknecht nach dem jüngsten Anschlag in Ansbach. Die Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE weiter:
„Der Staat muss jetzt alles dafür tun, dass sich die Menschen in unserem Land wieder sicher fühlen können. Das setzt voraus, dass wir wissen, wer sich im Land befindet und nach Möglichkeit auch, wo es Gefahrenpotentiale gibt. Ich denke, Frau Merkel und die Bundesregierung sind jetzt in besonderer Weise in der Verantwortung, das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit des Staates und seiner Sicherheitsbehörden zu erhalten.“

Spiegel Online wird bösartig

Bösartig entstellend war, was der Politik-Chef von Spiegel Online, Roland Nelles, sich darauhin in der ‚Lage am Dienstag‘ vom 26.07. einfallen ließ [2]:
„Wagenknecht macht der AfD Konkurrenz
Eine echte Anti-Flüchtlingsstimmungskanone ist übrigens auch Sahra Wagenknecht. Die Ereignisse der vergangenen Tage zeigten, dass die Annahme und Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern „mit erheblichen Problemen verbunden und schwieriger ist, als Merkels leichtfertiges ‚Wir schaffen das‘ uns im letzten Herbst einreden wollte“, meint die Fraktionschefin der Linken im Bundestag und erklärt damit mal eben kurzerhand alle Flüchtlinge zu potenziellen Terroristen. Manch einer in der AfD ist begeistert, was natürlich dumm ist: Wagenknecht will nämlich Frau Petry die Wähler klauen.“

Das ist nicht nur selektiv und unvollständig zitiert. Da legt Herr Nelles Frau Wagenknecht auch Aussagen in den Mund und unterstellt ihr eine Haltung, die das Gegenteil von dem ist, was sie gesagt hat.

Öffentliche Zurechtweisungen von Parteikollegen

Passend zu solcherart Rückendeckung ließ auch die öffentliche Zurechtweisung ihrer Politiker-Kollegen nicht lange auf sich warten:

Martina Renner, ebenfalls Abgeordnete der Linken im Bundestag, demonstrierte ihre Fähigkeit, über den Tellerrand hinaus zu agieren mit diesem Tweet: „Bisher war politische Instrumentalisierung und einseitige Adressierung bei schrecklichen Anschlägen und Verbrechen der Rechten vorbehalten.“ [3]

Jan van Aken, außenpolitischer Sprecher der Fraktion, brachte die Forderung nach einem Rücktritt von Wagenknecht von der Fraktionsspitze ins Spiel: „Wer Merkel von rechts kritisiert, kann nicht Vorsitzender einer Linksfraktion sein“, sagte er der Berliner Zeitung [4].

Ohne direkten Bezug zu Wagenknecht äußerte sich die Parteivorsitzenden, Katja Kipping und Bernd Riexinger [5]: „Der brutale Anschlag von Ansbach und die schrecklichen Gewalttaten von Würzburg und München machen vielen Menschen Angst. Die schrecklichen Taten der letzten Tage dürfen aber nicht dazu führen, dass Flüchtlinge und Asylbewerber unter Generalverdacht gestellt werden. …“ Gerade das hatte Wagenknecht nicht getan.

Wagenknecht’s Co-Fraktionsvorsitzender, Dietmar Bartsch, stimmt ebenfalls nicht mit seiner Kollegin überein, wahrt aber zumindest den politischen Stil: „Ich … habe ihr meine Kritik an ihrer Presseerklärung vom Tag zuvor persönlich und deutlich übermittelt“, sagte Bartsch den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. [6]

Wagenknecht erläutert ihre eigene Pressemitteilung

Wagenknecht selbst hielt es für notwendig, am Dienstag (26.07.) ihre eigene Pressemitteilung vom Montag zu erläutern [6]:


„Meine gestrige Stellungnahme zum Selbstmordattentat in Ansbach hat, wie die Kommentare zeigen, offenbar zu Missverständnissen geführt. Es ging mir weder darum, die Aufnahme von Flüchtlingen zu kritisieren noch alle in Deutschland lebenden Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen. Das habe ich weder gesagt noch gemeint. Im Gegenteil, ich habe schließlich nur einen Tag zuvor im ZDF Sommerinterview unmissverständlich gesagt, dass das Asylrecht verteidigt werden muss und es keine Obergrenzen geben kann. Rassistische Parolen und pauschale Verdächtigungen von Schutzsuchenden habe ich immer wieder mit aller Deutlichkeit kritisiert. Es ging mir darum deutlich zu machen, dass die Integration einer derart großen Zahl von Menschen eine der größten Herausforderungen der letzten Jahre ist und um die Kritik an Merkel, die im letzten Herbst zwar ihr ‚Wir schaffen das‘ fleißig gepredigt, bis heute aber unterlassen hat, die notwendigen sozialen und politischen Voraussetzungen zu schaffen, die gebraucht werden, damit Integration gelingen kann. Der Staat, seine Kommunen, sein Sozialwesen, seine Frühwarnsysteme wie die Soziale Arbeit, die Bildungseinrichtungen, die Verwaltung vor Ort, der soziale Wohnungsbau und auch die Polizei: das alles wurde in den zurückliegenden Jahren weggespart und abgebaut. Und auch seit letzten Herbst ist ausgesprochen wenig geschehen, diese Fehlentwicklungen zu korrigieren. Ich war davon ausgegangen, dass man nicht in jeder Stellungnahme alles noch einmal sagen muss, aber offenbar hat das zu den Fehlinterpretationen geführt. Deshalb möchte ich das hiermit ausdrücklich richtig stellen.“
[Hervorgehoben durch den Autor dieses Artikels, weil es eigentlich um diese Sachverhalte geht. Und nicht um das, was man Wagenknecht in manipulativer Absicht in den Mund legt. ]

Die Indoktrination gegen Wagenknecht in Teilen der Presse ist jedoch bereits im Gange

Besonders niederträchtig lästert Markus Decker, Politik-Journalist in der Hauptstadtredaktion von DuMont [b] in einem Kommentar in der Frankfurter Rundschau: Unter der Überschrift „Es geht auch ohne Sahra Wagenknecht“ kommt er auch gleich zur Sache: „Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht beweist mit ihrer Reaktion auf die Gewalt in Würzburg und Ansbach einmal mehr, dass sie als Fraktionschefin nicht geeignet ist.“„Es trägt Züge einer gerissenen Machtpolitikerin, die eine feindselige Haltung zur Westbindung Deutschlands und zum Euro unterhält und deren Liebesdienerei gegenüber Russland und deren Ablehnung von allzu vielen Flüchtlingen nach Rechtsaußen problemlos anschlussfähig sind.
Mangel an Anstand
Es ist kein Zufall, dass AfD-Politiker sich immer wieder lobend über die 47-Jährige äußern – und diese immer wieder durchblicken lässt, dass AfD-Anhänger berechtigte Sorgen artikulierten. Für Wagenknechts Mangel an Anstand ist es denn auch symptomatisch, dass sie die Tragödien von Würzburg, Reutlingen und Ansbach eiskalt ausnutzt, um gegen die abwartende Haltung der Kanzlerin zu punkten. Dies geht vor allem auf Kosten der Flüchtlinge und beweist hier wie dort eines: fehlendes Verantwortungsbewusstsein. Dass die linke Vorzeigefrau gestern wieder zurückruderte, ist ein von AfD-Politikern bekanntes Muster. Die wollen es hinterher ja auch meistens nicht so gemeint haben.“

Worum geht es eigentlich?

Solchen Kommentatoren, wie auch einigen Politikern der Linkspartei scheint es vor allem darum zu gehen, möglichst schnell zu vollenden, was die Torte in Wagenknechts Gesicht auf dem Parteitag noch nicht geschafft hatte: Nämlich Wagenknecht aus ihrem Amt zu drängen. Sie übersehen dabei, dass interfraktionelle Scharmützel um Posten im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs den potenziellen Wähler nur mäßig interessieren. Sie übersehen auch, dass Wagenknecht als eine der wenigen immer wieder Argumente vorträgt und nachvollziehbar begründet, die auch in der Wählerschaft Unterstützer finden: Sei es zur NATO, zur Außenpolitik, zur Finanz- und Europapolitik, zur Flüchtlingspolitik und eben zur Politik der Inneren Sicherheit.

Man kann differenzierte Meinungen zu diesen Themen nicht nur danach in richtig oder falsch einteilen, wenn diese im eigenen Parteiprogramm bzw. Koalitionsvertrag vorkommen. Wer so agiert, hat die aktuelle politische Situation und die Herausforderung für Parteien, die sich daraus ergibt, nicht richtig verstanden.
Eine offene Debattenkultur, wie auch die Einladung zur Beteilung an den nächsten Wahlen, sieht jedenfalls anders aus.

Fußnoten

[a]   Indoktrination ist eine besonders vehemente, keinen Widerspruch und keine Diskussion zulassende Belehrung. Dies geschieht durch gezielte Manipulation von Menschen durch gesteuerte Auswahl von Informationen, um ideologische Absichten durchzusetzen oder Kritik auszuschalten.

[b]   Medien von DuMont: http://www.dumont.de/medien-services.html#hid103

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Quellen

[1]   Wagenknecht Pressemitteilung vom 25.07.2016
http://www.linksfraktion.de/pressemitteilungen/menschen-muessen-sich-wieder-sicher-fuehlen-koennen/

[2]   Spiegel die Lage am Dienstag
http://www.spiegel.de/politik/ausland/news-des-tages-japan-horst-seehofer-sahra-wagenknecht-bernie-sanders-a-1104694.html

[3]    Renner Tweet vom 26.07.
https://twitter.com/MartinaRenner/status/757746301828272128

[4]    van Akten
http://www.berliner-zeitung.de/politik/linksfraktion-van-aken-fordert-wagenknechts-abloesung-24456614

[5]    ‚Gegen eine Brutalisierung der Gesellschaft: Die Ursachen von Gewalt und Terror bekämpfen statt Rassismus schüren!‘, 26.07.2016, Statement der Parteivorsitzenden
https://www.die-linke.de/nc/presse/presseerklaerungen/detail/zurueck/presseerklaerungen/artikel/gegen-eine-brutalisierung-der-gesellschaft-die-ursachen-von-gewalt-und-terror-bekaempfen-statt-rassismus-schueren/

[6]   ’Bartsch geht nach Äußerungen zu Ansbach auf Distanz zu Wagenknecht‘, 26.07.2016, dts Nachrichtenagentur in
http://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2016-07/38087711-bartsch-geht-nach-aeusserungen-zu-ansbach-auf-distanz-zu-wagenknecht-003.htm

[7]   Statement von Sarah Wagenknecht via Facebook am 26.07.2016
https://www.facebook.com/sahra.wagenknecht/posts/1369615796389147

sowie ergänzend:
Sommerinterview mit Sarah Wagenknecht im ZDF am Sonntag, 25.07.2016,
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2795088/Sommerinterview-mit-Sahra-Wagenknecht?bc=svp;sv0&ipad=true#/beitrag/video/2795088/Sommerinterview-mit-Sahra-Wagenknecht