Das große Geschacher

Es ging zu, wie auf dem Rossmarkt. Diesen Eindruck erhält man bei Lektüre der Morgenpresse zum gestrigen Gipfel der EU-Staatschefs mit der Türkei. Frau Merkel hatte schon mal im kleinen Kreis vorverhandelt mit dem türkischen Premierminister; nur der niederländische Regierungschef Rutte durfte dabeisein. Die beiden waren also die einzigen, die nicht perplex waren von dem Vorschlag, den Dovutoglu anschließend präsentierte: Von einem noch festzulegenden Stichtag in der Zukunft an wolle die Türkei alle „neu über die Ägäis in Griechenland ankommenden Flüchtlinge zurücknehmen.“ Uneingeschränkt: Alle! Unabhängig von deren Herkunft und Grund der ‚Reise‘ nach Griechenland.

One in, one out

Für jeden so „zurückgenommenen“ Menschen sollen „die EU-Staaten“ [sic!] dann für jeden von Ankara zurückgenommenen Syrer [sic!] einen anderen Syrien-Flüchtling aufnehmen, den die Türkei auf ihrem Konto syrischer Köpfe zählt. Der Guardian berichtet allerdings aktuell von 3 Millionen Flüchtlingen [ohne die Staatsangehörigkeit zu nennen], die sich aktuell in der Türkei aufhalten. Für die Verteilung auf die EU sollen die ursprünglich einmal verhandelten Quoten des Resettlement Programs verwendet werden, das ist die Kopfzahl von immer wieder genannten 160.000 Menschen, die auf die Staaten der EU verteilt werden sollten. Was bekanntlich bisher nur bei weit weniger als tausend gelungen ist. Denn es weigern sich inzwischen ganze Staaten beharrlich, sich an dieser Umsiedelung zu beteiligen. Mal generell, wie die Ungarn, mal aus religiösen Überlegungen, wie in der Slowakei, wo man etwas gegen Muslime hat.

Weitere Forderungen der türkischen Seite

Natürlich hat man in der Türkei erkannt, wie günstig die aktuelle Situation für die eigene Seite ist bzw. in welch bescheidener Situation sich das vereinte Europa befindet. Deshalb legte Dovutoglu noch einige Forderungen drauf: Visaerleichterungen – vorgezogen gegenüber dem bisherigen Vereinbarungen – ab dem 1. Juni, zügige Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen und weitere 3 Milliarden Euro – zusätzlich zu den schon zugesagten, zur Deckung der Unkosten.

Leise Einwände – fürs Protokoll

Ganz so schnell, wie sich der türkische Premier mit der Kanzlerin einig geworden war, ging es dann doch nicht weiter in der großen Verhandlungsrunde. Der italienische Premier drohte sein Veto an, wenn sich nicht im finalen Gipfelerklärung eine Bemerkung zur Pressefreiheit in der Türkei finden würde. Dortselbst waren inzwischen weitere Fakten geschaffen worden. Mogherini, die „Außenministerin“ der EU verlangte Respekt [der Türkei, versteht sich …] vor den wichtigsten Prinzipien einer Demokratie, nämlich Rechstaatlichkeit und Pressefreiheit. Merkel wollte die schon vorbereitete Erklärung nicht unterschreiben, dass „die Balkanroute offiziell geschlossen“ sei. Das hätte sich nicht gut vertragen mit dem Bild von der um Humanität ringenden Mutter der Flüchtlinge, das sie dank Anne Will gerade wiederbelebt hatte. Dank Mazedonien konnte man sich dann einigen auf die alternative Formulierung, dass die „irregulären Migrationsströme auf der Balkanroute zu einem Ende gekommen“ seien. Eine Formulierung, die, nur am Rande sei’s bemerkt, außer Acht läßt, dass viele der Menschen, die da kommen, nicht etwa „irregulär einwandern“, sondern Asyl suchen. Aber das Winken mit der Genfer Flüchtlingskonvention ist ja recht unmodern geworden in diesen Zeiten …

Vertagt auf nach den Landtagswahlen – Tusks soll’s richten

Über all diesen kleinen und größeren Querelen beschloss man, sich zu vertagen. EU-Ratspräsident Tusk wurde beauftragt, die Verhandlungen mit der Türkei voranzubringen. Am 17. Und 18. März will man sich erneut mit der Türkei zusammensetzen. Gott sei Dank, sind dann erst einmal die Landtagswahlen in Deutschland vorbei. Die Neue Zürcher Zeitung äußerte berechtigte Zweifel, ob der neue Plan tatsächlich beschlossen werden kann und ob er sich in der Praxis bewährt. Denn es stehen einerseits noch heikle Detailverhandlungen an – Griechenland und Zypern haben diverse Argumente gegen einen EU-Beitritt der Türkei [hatte Frau Merkel auch lange Zeit …], und dann müssten sich auch noch die EU-Mitgliedsstaaten zur Aufnahme von syrischen Flüchtlingen bereit erklären und zu Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger. Die Erfahrung der letzten Monate hat gezeigt, dass es dabei zu Schwierigkeiten kommen könnte.

Ein gestrandeter Flüchtling in Griechenland „muss das schon mal aushalten …“ sagt De Maizière

Völlig unberücksichtigt bleibt bei diesem politischen Ergebnis, was mit den heute schon in Griechenland gestrandeten Flüchtlingen geschehen soll. Oder mit den hunderttausenden von Flüchtlingen, die in der Türkei sitzen und keine eintauschbaren Syrer sind. Der deutsche Innenminister demonstriert das, war er besonders gut kann – verbale Härte: Die sollten in Griechenland bleiben und „das kann jetzt mal ausgehalten werden“ sagte der auf einer Wahlkampfveranstaltung mit Blick auf die Bilder aus den griechischen Lagern.
Er ist ja der Meinung, dass die in Griechenland aufzubauenden Hotspots vor allem die Registrierung der Asylsuchenden zu erledigen haben, „Hausaufgaben machen“, nennt er das und übersieht dabei geflissentlich, dass dies eine Aufgabe, an der deutsche Behörden unter seiner Führung seit Monaten gescheitert sind.

Nicht alternativlos – die Wiederentdeckung der Seewege nach Italien

Bei allem Optimismus, den Politiker und Teile der Medien über erhoffte Fortschritte auf dem EU-Türkei–Gipfel verströmen: Könnte es sein, dass sie die Rechnung ohne die Menschen gemacht haben, die hier verschachert werden sollen? Und ohne die, die entschlossen sind, nach Europa zu flüchten? Was werden die wohl tun, wenn dann tatsächlich mit der Hilfe der EU und der NATO, die seit dem heutigen Tag in den Gewässern zwischen Türkei und Griechenland patrouilliert, dieser Weg versperrt ist: Ein Blick auf die Karte zeigt, dass es, ganz anders als bei Frau Merkel, durchaus Alternativen gibt: Seewege von Ägypten aus oder von Libyen nach Italien werden sich dann wieder steigender Nutzung erfreuen. Und wir warten gespannt auf das nächste Geschachere – dann mit einer Regierung in Libyen, die nicht existent ist.

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Quellen zu diesem Artikel

Dieser Artikel beruht u.a. auf Material aus diesen Artikeln der heutigen Presse
„Syria refugee crisis: EU and Turkey agree outline of ‚one in, one out‘ deal“, 08.03.2016, The Guardian

„Merkels Minimalerfolg“, Handelblatt, 08.03.2016

„Die Tage illegaler Migration nach Europa sind vorbei“, 08.03.2016, Die Welt

„Kann jetzt mal ausgehalten werden“, 07.03.2016, T-Online

„Neuer Türkei-Plan sorgt für Dynamik“, 0.03.2016, Neue Zürcher Zeitung